Relative Age Effect: Spätgeborene fördern

Fehlen dem deutschen Fußball die Talente? Nach dem enttäuschenden Abschneiden bei der WM wird dieses Thema wieder heiß diskutiert. Aber ist das nicht zu kurz gegriffen? Muss die Frage nicht lauten: Finden und fördern wir stets die richtigen Talente? In diesem Zusammenhang wird immer häufiger über den Relative Age Effect (RAE) gesprochen. Worum geht es dabei? Und in welcher Form setzt sich der FVM mit dieser Problematik auseinander?

Relative Age Effect: Spätgeborene fördern

Es ist kein Phänomen, es ist eine Tatsache. Es ist kein neues Thema, es ist inzwischen ein Dauerbrenner. Aber trotzdem wussten lange nur Experten etwas mit dem „Relative Age Effect“ (RAE) anzufangen. Spätestens jedoch nach dem enttäuschenden Auftreten der DFB-Auswahl bei der WM stellen sich viele die Frage: Wie konnte es dazu kommen? Fehlen dem deutschen Fußball die Talente?

Was ist der Relative Age Effect?

Die Antworten sind eher an einer anderen Stelle zu suchen. Nämlich an dieser: Bilden wir überhaupt die richtigen Talente aus? Oder läuft schon bei der Auswahl etwas schief? An diesem Punkt kommt der Relativ Age Effect ins Spiel. Dabei geht es darum, dass in Jugendmannschaften, auffällig viele Spieler vertreten sind, die im ersten Quartal bzw. der ersten Hälfte des Jahres geboren sind. Ein Zufall? „Nein, ganz sicher nicht“, sagt Marc Dommer, DFB-Stützpunktkoordinator im Fußball-Verband Mittelrhein. „Die Häufung ist durch alle Spiel- und Altersklassen viel zu offensichtlich, um hier von einem Zufall zu sprechen. Auch in anderen Sportarten kann man das beobachten.“ Wer genauer hinschaut, findet Beispiele wie Sand am Meer. Ein Blick auf den Kader der U21-Nationalmannschaft reicht, um diesen Standpunkt zu bestätigen. Von den 21 Spielern im aktuellen Aufgebot (Stand: Juli 2018) sind elf im ersten Quartal geboren, also von Anfang Januar bis Ende März, vier weitere im zweiten Quartal von April bis Juni. Prozentual ausgedrückt bedeutet das, dass über 71 Prozent des Kaders in der ersten Jahreshälfte geboren sind. Je jünger die Mannschaften werden, desto ausgeprägter ist diese Tatsache. Und dabei spielt es keine Rolle, ob man sich die Kaderzusammensetzungen im Spitzen-Nachwuchsbereich auf Verbands- oder Vereinsebene anschaut.

Gründe für den RAE

Woran liegt das? Wer sich wie Marc Dommer etwas genauer mit der Thematik beschäftigt, bekommt schnell einleuchtende Erklärungen: „Auch im Jugendfußball geht es meist schon darum, Ergebnisse zu erzielen. Die Erfolgsorientierung ist auch hier schon sehr ausgeprägt und wird durch ein entsprechendes gesellschaftliches Belohnungssystem verstärkt. Oftmals werden kräftige und ausdauernde Spieler bevorzugt. Zwar sind kalendarisches und biologisches Alter nicht immer gleichzusetzen, aber wenn ein junger Fußballer im Januar geboren wurde, ist er fast ein Jahr älter als ein Spieler, der im Dezember Geburtstag hat. Dennoch spielen sie in einer Mannschaft und werden zu oft nach den gleichen Kriterien verglichen. In dieser Altersklasse jedoch sind die Unterschiede in der Entwicklung noch immens. Bei einem Zehnjährigen macht ein Jahr 10 Prozent der gesamten Lebenszeit aus. Der Ältere ist oft körperlich und auch geistig schon viel weiter entwickelt und hilft damit einer Mannschaft aktuell womöglich eher weiter als ein jüngerer Spieler des gleichen Jahrgangs. Zwangsläufig kommt man dann zu der Frage, ob talentierte Spieler nicht womöglich durchs Raster fallen, nur weil sie in der zweiten Jahreshälfte geboren sind und dadurch aktuell oft weniger leistungsstark sind.

Fördersystem überdenken

Dommer betont, dass auch andere Länder die Problematik des Relative Age Effects erkannt haben und versuchen, dem entgegenzusteuern: „Belgien beispielsweise hat bereits vor mehreren Jahren begonnen, in den Jugendnationalmannschaften eines Jahrganges teilweise zwei oder drei Teams zu stellen und dabei ebenso Frühentwickler wie Normal- und Spätentwickelte zu berücksichtigen. Somit gibt es einerseits ein perspektivisch ausgerichtetes Fördersystem und andererseits sowohl für (retardierte) Spieler als auch für Jugendtrainer ein Anreizsystem. Für mich sind deshalb die guten Leistungen der Belgier bei dieser Weltmeisterschaft sowie die, für ein vergleichbar kleines Land, hohe Talentdichte nicht überraschend und vor allem nicht zufällig.“

Beim FVM hat Dommer mit seinen Stützpunktkollegen ebenfalls eine Systematik entwickelt, um dem Relativ Age Effect sinnvoll entgegen zu wirken. „Unsere Stützpunktgruppen bestehen maximal aus 15 Spielern. Wir achten darauf, dass mindestens ein Drittel der aufgenommenen Talente im vierten Quartal und mindestens ein Fünftel im dritten Quartals des betreffenden Jahrganges geboren wurde“, sagt der 43-Jährige. „Wir wollen u.a. damit eine stärkere Ausrichtung am Entwicklungspotenzial der Spieler, als lediglich an der aktuellen Leistungsfähigkeit erreichen.“ Gleichzeitig ist es Dommer wichtig zu betonen, dass damit Frühgeborene und Frühentwickelte nicht prinzipiell ausgeschlossen werden: „Es geht darum, auch den jüngeren Spielern eines Jahrgangs die Möglichkeit einer optimalen Förderung anzubieten. Dennoch bleiben weiterhin auch genügend Förderplätze für die talentiertesten Frühentwickler übrig. Fakt ist aber auch, dass angesichts der zwei hervorragend sichtenden Nachwuchsleistungszentren (NLZ) des 1. FC Köln und von Bayer 04 Leverkusen, die talentiertesten Frühentwickler oftmals schon vor dem Eintritt ins Stützpunktalter rekrutiert werden und im NLZ sind. Dementsprechend sind Talentpotentiale außerhalb der Leistungszentren in unserem Verbandsgebiet sicherlich eher bei den Spätentwicklern zu erwarten.“

Dommer ist davon überzeugt, dass diese Ansätze mittel- und langfristig zu einer Verbesserung der Effektivität der Stützpunktarbeit führen können. „Wir müssen uns selbstkritisch damit auseinandersetzen, dass nach 16 Jahren Stützpunkt-Förderung nur sehr wenige ehemalige FVM-Stützpunktspieler, wie etwa der im Stützpunkt Euskirchen geförderte Lukas Klünter, im Profi-Fußball angekommen sind. Ein späterer A-Nationalspieler, wie z.B. der in einem saarländischen Stützpunkt ausgebildete Jonas Hector, fehlt uns im FVM bisher komplett. Aus der Vision, in einigen Jahren auch einen erfolgreichen A-Nationalspieler mit Vergangenheit in einem FVMStützpunkt zu haben, müssen wir meines Erachtens den Anspruch an unsere heutige Arbeit ableiten.“

Kriterien anpassen

Wie gesagt werden an den FVM-Stützpunkten nun nicht nur Spieler aufgenommen, weil sie in der zweiten Jahreshälfte geboren wurden. Über allem steht nach wie vor die Frage der Veranlagung. Woran erkennt man jedoch möglichst objektiv, ob ein Fußballer über das nötige Talent verfügt? Welche Merkmale sind dafür entscheidend? „Wir haben einige Kriterien benannt, an denen wir uns orientieren“, sagt Dommer. Bei der Auswahl der Spieler seien folgende Aspekte entscheidend: eine große Spielfreude, eine grundsätzlich hohe Leistungs- und Lernbereitschaft, insgesamt flüssige Bewegungsabläufe, ein gutes Ballgefühl, eine hohe Handlungsschnelligkeit aber auch „indirekte Faktoren“ wie eine bedingungslose und konstruktive Unterstützung aus dem familiären Umfeld.

„Es ist für uns nicht das entscheidende Kriterium, ob ein Spieler vielleicht der größte und kräftigste in seinem Jahrgang ist und damit den anderen alleine physisch überlegen ist. Wir versuchen zu erkennen, welches Entwicklungspotenzial in einem Spieler steckt, und diejenigen mit der vermeintlich besten Perspektive auszuwählen.“ Über allen Anstrengungen steht ein großes Ziel: Spätentwickler und Spätgeborene dürfen nicht mehr durch das Sichtungsnetz fallen. Denn das ist womöglich auf allen Ebenen viel zu lange passiert.

Text: Sven Winterschladen

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